Fachlaufbahn - So werden Sie zum Guru
Karrierestrategien (2)
Fachlaufbahn galt als Trostpflaster für Mitarbeiter, die nicht "richtig" Karriere machten. Heute arbeiten Experten auf Augenhöhe mit Managern. Was die Fachlaufbahn bringt und wie man darin Erfolg hat.
Von Christoph Stehr
Seit 30 Jahren futtert sich Peter Lind durch die Spezialitäten dieser Welt. Steak and Kidney Pie in London, Croque Monsieur in Paris, Sachertorte in Wien – über Geschmack lässt sich mit dem Lebensmittel-Scout des amerikanischen Eiscremeherstellers Ben & Jerry's trefflich streiten.
Auf den Eiskremtherapeuten hört man
Sein Job sei es, "die Welt um uns herum zu beobachten und in Eiscreme zu verwandeln", sagt Lind, der eigentlich Romanistik studiert hat. Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, auf dessen Visitenkarte "Primal Ice Cream Therapist" steht.
Lind fährt keinen Dienstwagen mit Chauffeur, er hat kein prächtiges Büro, niemand hört auf sein Kommando. Trotzdem gilt sein Wort bei Ben & Jerry's so viel wie das des Geschäftsführers. Lind ist ein absoluter Experte, ein "Flavor Guru", der mit neuen Eiskreationen den Erfolg seines Unternehmens sichert. Fachleute wie ihn braucht jedes Unternehmen – auch wenn sie überall anders heißen.
Gut fürs Arbeitgeberimage
Bei SAP ist es der "Chief Development Architect", der die weltweite Verantwortung für eine neue Software trägt; E-Plus legt die Weiterentwicklung von Mobilfunk-Standards in die Hände eines "Senior Principal Expert"; der "Chefaktuar" der Vienna Insurance Group bewertet milliardenschwere Versicherungsrisiken.
Fachlaufbahnen sind verbreitet, wie eine Studie der Beratungshäuser Klaus Lurse und Baumgarten zeigt. Knapp die Hälfte der befragten Unternehmen verfügt über langjährige Erfahrung, 41 Prozent wollen die Fachlaufbahn demnächst einführen. Wo sie bereits Schule gemacht hat, wird oft ein zweiter, ebenfalls nicht auf Führungsverantwortung ausgerichteter Karrierepfad angeboten: die Projektlaufbahn, die Unternehmen wie OMV oder Telekom Austria seit langem praktizieren.
Für Unternehmen spricht viel für die Fachlaufbahn
Hier geht es weniger darum, sich langfristig in einem Fachgebiet zu vertiefen, sondern darum, zeitlich begrenzte, in sich abgeschlossene Aufgaben zu lösen. Drei Viertel der Unternehmen, so die Studie, nutzen die Fachlaufbahn als On-Top-Modell, das heißt, als mit hohem Status verbundene Karrierealternative für wenige Spitzenleute. Ein Viertel tendiert eher zum Breitenmodell, das für Mitarbeiter ab Sachbearbeiterebene offen ist.
Aus Sicht der Unternehmen spricht vieles für die Fachlaufbahn. Führungspositionen werden aus Kostengründen abgebaut, dennoch benötigen Mitarbeiter eine Entwicklungsperspektive. Der Kampf um Talente verschärft sich – die besten gehen dorthin, wo sie die besten Chancen sehen.
Nach einer Forsa-Untersuchung wünschen 73 Prozent der Arbeitnehmer eine anspruchsvolle, abwechslungsreiche Tätigkeit. Nette Kollegen und Lob vom Chef sind ihnen zwar noch wichtiger, Gehalt und Status dagegen nicht. Das Ergebnis deckt sich mit der aktuellen Haniel-Absolventenstudie: 70 Prozent der Berufsanfänger wollen sich persönlich weiterentwickeln, nur 49 Prozent schielen in erster Linie aufs Geld.
Inhalt schlägt Gehalt
Der Wiener Karriere-Coach Dr. Leopold Faltin kennt ein untrügliches Zeichen, das Berufsanfängern die Wahl der Fachlaufbahn nahelegen sollte: "Wenn mich die Inhalte mehr interessieren als ihre Kommunikation." Gerade in technologieintensiven Branchen sei das Angebot an inhaltlich orientierten Tätigkeiten groß, würden Fach- und Führungslaufbahn als gleichwertig angesehen. Wobei "gleichwertig" nicht "gleichberechtigt" bedeute: "Auch dort sind die Linienführungskräfte die, die letztlich die Entscheidungen treffen", sagt Faltin.
Echte Experten können gut damit leben. "Beziehe ich meine persönliche Befriedigung aus meiner hohen Qualifikation in einem Spezialgebiet, aus meinem überall anerkannten Expertenstatus, der in der Fachliteratur zitiert wird, dann bin ich in der Fachlaufbahn richtig aufgehoben", sagt Mag. Franz Bauer, Trainer und Berater in Wien.
Die Professoren Michel E. Domsch von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und Désirée Ladwig von der Fachhochschule Lübeck haben die Karriere- und Vergütungspraxis in Konzernen untersucht und herausgefunden, dass die Fachlaufbahn in den letzten Jahren deutlich aufgewertet wurde.
So ziehen sich beim Automobilzulieferer und Elektronikkonzern Bosch fünf "Global Salary Levels", also konzernweit einheitliche Gehaltsbänder, sowohl durch die Führungs- also auch durch die Fach- und die Projektlaufbahn. Ein "Direktionsberater", wie die wichtigsten Bosch-Experten intern genannt werden, verdient unter Umständen so viel wie ein Werkleiter, ein "Hauptreferent" so viel wie ein Abteilungsleiter.
Karriereleiter durch die Hintertür
Damit Experten und Linienmanager sich auf Augenhöhe begegnen – nur dann kann das Potenzial der Gurus ausgeschöpft werden –, locken Unternehmen zusätzlich mit nichtmonetären Anreizen. Sie präsentieren ihre Fachleute in der Mitarbeiterzeitschrift, schicken sie in TV-Sendungen oder auf internationale Kongresse. Zur Akzeptanz im eigenen Haus tragen auch die Jobtitel bei. Mancherorts wird so quasi durch die Hintertür eine ausgeprägte Hierarchie in die streng genommen hierarchiefreie Fachlaufbahn eingezogen.
Air Liquide, ein weltweit führender französischer Hersteller von technischen Gasen, greift das viel bemühte Bild von der Karriereleiter auf: Auf seiner "Technical Career Ladder" steigen Fachleute vom "Specialist" über den "Senior Specialist", "International Specialist", "International Senior Specialist" bis zum "Fellow" auf.
Solche Insignien sind Balsam für die Spezialistenseele. "Wenn Sie ein absoluter Experte sind, spielt es keine Rolle, ob Sie Mitarbeiter haben", sagt Jürgen Hesse, Gründer des Büros für Berufsstrategie Hesse/Schrader. "Der Neurochirurg, der einen Hirntumor entfernt, ist ein Künstler. Er braucht keine Assistenten, um seinen Status bestätigt zu wissen."
Vorsicht vor Stolpersteinen
Wer auf den Guru-Faktor setzt, kann höheres Ansehen erringen als Kollegen im operativen Geschäft, die von Quartal zu Quartal hetzen und deren Leistung nur an unerbittlichen Zahlen gemessen wird. Das erhöht nicht zuletzt die Arbeitsplatzsicherheit. Doch auch auf der Fachlaufbahn liegen Stolpersteine, wie die Untersuchung von Domsch und Ladwig zeigt:
Zu große Spezialisierung macht unflexibel; die Vernetzung im Unternehmen ist schwierig; unter Experten herrscht oft harte Konkurrenz. Äußere Einflüsse können einen Guru schnell vom Himmel holen. Beispiel: Vor Fukushima waren Kerntechniker in Energiekonzernen wichtige Leute, weil sie für eine exportträchtige Zukunftstechnologie standen.
Die Chance, von der Fach- auf die Führungslaufbahn umzuschwenken, eröffnet sich meist nur in jungen Berufsjahren. "Die Frage ist aber, ob das wirklich meinen Anlagen entspricht", meint Karriereberater Faltin. "Häufig haben Menschen Talente in beiden Bereichen, dann ist es nützlich abzuwägen, bis wohin will ich mich ‚nach oben' bewegen. Je weiter oben, desto mehr werden Inhalte gegen Management und Führung ausgetauscht. Führungskraft für einige wenige Experten kann zum Beispiel ein sehr befriedigender Kompromiss für Multitalente sein!"