Candidate Experience: Bitte recht freundlich

Ein positives Bewerbungserlebnis für Kandidaten – auch Candiate Experience genannt – wird immer wichtiger. Unternehmen, die das nicht selbst erkennen, werden durch den Fachkräftemangel und die demografische Lücke Probleme bekommen.

Michael Vogel

Im Prinzip ist die Sache ganz einfach. Ein jeder bringe seinem Gegenüber die Wertschätzung entgegen, die er selbst spüren möchte. Wenn man jetzt noch diese Interaktion zwischen zwei Personen durch die Interaktion zwischen einem Unternehmen und einem Bewerber ersetzt, dann ist man schon auf einem guten Weg zu einer positiven Bewerbererfahrung. Aber weil die betriebliche Realität eben oft nicht so einfach ist, muss sie ein Unternehmen sich erarbeiten. Dafür gibt es ein englisches Schlagwort: Candidate Experience.

Was bedeutet Candidate Experience?

„Hierunter subsummiert sind alle Erfahrungen, die ein Bewerber mit einem potenziellen Arbeitgeber macht“, sagt Sörge Drosten, Geschäftsführer und Partner bei der Kienbaum Executive Consultants International GmbH. Und obwohl es sicherlich viele leuchtende Vorbilder gibt, sind laut Drosten auch in der deutschen Recruiting-Realität des 21. Jahrhunderts noch Fälle zu finden, in denen Unternehmen die Bewerber im Gespräch „eineinhalb Stunden lang verdursten lassen“ oder „der Mitarbeiter am Empfang wie ein Vollzugsbeamter“ auftritt.

Auch diese vermeintlichen Bagatellen sollten angesichts der viel beschworenen demografischen Lücke oder des Fachkräftemangels in verschiedenen Berufssparten nicht ignoriert werden. Sie allein sind sicherlich kein Grund, dass ein Bewerber sich gegen ein Unternehmen entscheidet, aber sie sind Mosaiksteine, die zum Gesamtbild beitragen. „Dass die ersten Minuten entscheidend für den Eindruck sind, haben viele Bewerber inzwischen verinnerlicht“, so Drosten, „aber dass sich auch ein Bewerber in den ersten Minuten im Unternehmen ein Bild macht, teils noch bevor er überhaupt mit dem Unternehmensvertreter in Kontakt kommt, das wird immer mal wieder vergessen.“

Das richtige Verhalten im  Vorstellungsgespräch…

Selbst wenn den Zuständigen im Personalbereich die Bedeutung der Candidate Experience klar ist, muss das noch nicht für die Fachbereiche gelten. Diesen sei oft gar nicht bewusst, wie der Arbeitsmarkt aussieht und welchen Aufwand der Personalbereich getrieben habe – bis hin zur Einschaltung eines Headhunters –, um einen geeigneten Kandidaten zu finden. „Wenn dieser Kandidat im Vorstellungsgespräch dann einfach die Frage gestellt bekommt, warum er sich beim Unternehmen bewerbe, kommt das bei ihm nicht gut an“, so Drosten.

Dass Vorstellungsgespräche keine Einbahnstraße sind, in der nur die Unternehmen die Kandidaten prüfen, zeigt auch die Studie „Bewerbungspraxis“, die Monster.de gemeinsam mit den Universitäten in Frankfurt am Main und Bamberg durchgeführt hat. Befragt wurden mehr als 6000 Stellensuchende und Karriereinteressierte. Sechs von zehn Studienteilnehmer haben bereits mindestens einmal auf Grund der Eindrücke im Bewerbungsgespräch das Stellenangebot eines Unternehmens abgelehnt; nur gut die Hälfte hat überwiegend positive Eindrücke in Einstellungsgesprächen gewonnen.

Coaching für Führungskräfte

Die Sensibilität der Fachbereiche für die Thematik ist also ein wichtiges Element, um eine bessere Candidate Experience zu erreichen. „Entsprechende Briefings durch die Recruiting-Verantwortlichen können da helfen“, sagt Wolfgang Brickwedde, Inhaber des Institute for Competitive Recruiting. „Für gewöhnlich sind die Fachbereiche auch dankbar dafür. Schließlich geht es vielen Verantwortlichen bei Bewerbungsgesprächen so ähnlich wie uns allen bei der Wohnungssuche: Man weiß im Prinzip, wie man es macht, aber man sucht nicht jedes Jahr eine neue Wohnung und kennt daher den Markt nicht.“ Alle am Auswahlprozess Beteiligten müssten lernen, dass man in Vorstellungsgesprächen heute Kandidaten gegenübersitze, nicht Bewerbern im ursprünglichen Sinne.

Bewerbermanagementsysteme: Oft wenig kandidatenfreundlich

Doch es gibt für einen Personalbereich noch weitere Ansatzpunkte, um die Candidate Experience auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dazu gehören zum Beispiel die Bewerbermanagementsysteme: Zwar sorgt der IT-gestützte Bewerbungsprozess über eine Website für durchgängige Prozesse im Unternehmen, aber manches Front-end des Bewerbermanagementsystems dient eher der Bewerberverhinderung. „Wenn jemand für die Bewerbung 45 Minuten lang diverse Eingabemasken ausfüllen muss, kommt das einem Amtsgang gleich“, kritisiert Brickwedde und fordert einen „roten Teppich“ für Kandidaten.
Analysiert man – in Anlehnung an das Produktmarketing – aus Sicht des Kandidaten die verschiedenen Stadien, in denen ein Bewerber mit dem Unternehmen in Kontakt kommt, so liefert das Hinweise auf Verbesserungen für die eigenen Prozesse. Das reicht vom Erstkontakt, zum Beispiel durch eine Kampagne oder einen Messeauftritt, über die Online-Bewerbung aufgrund von aktuellen Stellenausschreibungen und das Vorstellungsgespräch bis zur Transparenz über die weiteren Schritte des Auswahlprozesses sowie zeitnahes Feedback.

Zielgruppenspezifische Ansprache

Ganz im Sinne des Marketings muss die Ansprache von potenziellen Bewerbern nachfrageabhängig, und damit zielgruppenspezifisch, erfolgen. „Active Sourcing für alle zu besetzenden Stellen im Unternehmen wäre vom Personalbereich aufgrund der endlichen Ressourcen auch gar nicht zu leisten“, so Brickwedde. Bewerber in Mangelberufen werden also aufwändig umworben, zum Beispiel mit dedizierten Veranstaltungen, direkten Ansprechpartnern in Stellenanzeigen oder Netzwerken im Social Web, während für andere Berufsgruppen der Aufwand beim Recruiting deutlich geringer ausfällt. „Trotzdem gilt natürlich, dass man allen Bewerbern Wertschätzung entgegen bringen muss“, betont Brickwedde. Sörge Drosten formuliert es so: „Jeder Kandidat muss auch bei einer Absage gut über ein Unternehmen reden können, denn bekanntlich verbreiten sich schlechte Erfahrungen rasch.“ (Bild: Fotolia)